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Henrietta Vansittart

GB2877 (1868)

GB2877 (1868)

Im Namen des Vaters

Ihr Name war fast vergessen, aber heute hat Henrietta Vansittart ihren festen Platz in der Technikgeschichte: Sie gehörte zu den ersten Frauen in Europa, die sich öffentlich als Ingenieurin und Erfinderin betätigten. Henrietta Vansittart, geborene Lowe, erlangte zur ihrer Zeit sogar eine gewisse Berühmtheit. Ihre Schiffsschraube gilt als eine wichtige nautische Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Henrietta, geboren wahrscheinlich 1833 in Surrey, war eines der sechs Kinder des Schmieds und Erfinders James Lowe. Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater investierte das Geld seiner Frau Marie in seine Tüftelei an einem Schraubenpropeller, für den er 1838 ein britisches Patent ( pdf-Datei Nr. 7599 (1,44 MB)) erhielt. Die Erfindung hatte wohl auch einen gewissen Erfolg. Aber Lowe sah sich offenbar gezwungen, mehrere Rechtsstreite um die Verletzung seines Patents zu führen, die ihn schließlich an den Rand des Ruins brachten.

Ihr profundes Wissen über Technik im Allgemeinen und Schiffsschrauben im Besonderen, das sie später demonstrierte, muss Henrietta bei ihrem Vater erworben haben, denn sie erhielt niemals eine formelle Ausbildung. Belegt ist beispielsweise, dass sie 1857 ihren Vater an Bord des kleinen Kriegsschiffes „HMS Bullfinch“ begleitete, um seine neuesten Schiffsschrauben zu testen.

Ein Trauerfall als Ansporn

Die einzige erhaltene Darstellung Henrietta Vansittarts

Die einzige erhaltene Darstellung Henrietta Vansittarts auf dem Titelbild ihres Buches

Bereits 1855 hatte Henrietta Lowe den Dragoner-Leutnant Frederick Vansittart geheiratet. Der Wendepunkt ihres Lebens war jedoch der Unfalltod ihres Vaters am 12. Oktober 1866 (er wurde in London von einer Kutsche überfahren). Sie entschloss sich, seine Arbeit fortzusetzen. Fast zwei Jahrzehnte wirkte sie als Ingenieurin, wurde wesentlich erfolgreicher und bekannter als ihr Vater und entwickelte die Lowe-Vansittart-Schiffsschraube entscheidend weiter.

1868 erhielt sie als eine der ersten Frauen ein britisches Patent auf ihren eigenen Namen ( pdf-Datei Nr. 2877 (3,4 MB)). 1869 folgte ein US-Patent ( pdf-Datei US89712A). Ihr weiterentwickelter Propeller (mit gebogenen statt geraden Blättern) soll schneller, effizienter und vibrationsärmer als seine Vorläufer gewesen sein; außerdem besser steuerbar im Rückwärtsgang. Er kam in verschiedenen Marine- und Handelsschiffen zum Einsatz, etwa 1869 in der „HMS Druid“. Ein Modell des Propellers, das Vansittart dem Haus schenkte, befindet sich bis heute im externer Link Science Museum London.

International geehrt

Modell der Vansittart-Schiffschraube im Science Museum London

Modell der Vansittart-Schiffschraube im Science Museum London

Die Vansittart-Schiffsschraube erhielt zwischen 1872 und 1881 eine Reihe von internationalen Auszeichnungen, etwa Medaillen und Diplome auf Ausstellungen in Dublin, Paris, Sydney, Melbourne und Adelaide. Henrietta erwarb sich Respekt und Bekanntheit in Fachkreisen. 1876 schrieb und illustrierte sie einen wissenschaftlichen Artikel über den Lowe-Vansittart-Propeller, den sie 1880 bei der „Association of Foreman Engineers and Draughtsmen“ in London persönlich vortrug – als erste Frau überhaupt, heißt es.

1882 veröffentlichte Vansittart die Schrift „The History of the Lowe Vansittart Propeller and a short extract of the life of the late Mr James Lowe, the successful inventor of screw ships from their first introduction“, in der sie das Vermächtnis ihres Vaters würdigte.

Alles nur für die Familie?

US89712

US89712

Tatsächlich war Vansittart, die später als Vorreiterin der Emanzipation gefeiert wurde, nach ihren eigenen Worten nur in die Öffentlichkeit getreten, um das Erbe ihres Vaters zu ehren und fortzuführen. Sie war offiziell durchaus der Meinung, dass der Platz der Frau eigentlich zu Hause bei der Familie sei – es sei denn, es gelte, die Sache eines Familienmitglieds zu verteidigen, wie in ihrem Fall. Ob sie wirklich so dachte oder diese Mission nur vorschob, um nicht von der viktorianischen Männerwelt angefeindet zu werden, wird man wohl nie erfahren.

Es war also ihre Mission im Namen des Vaters, die sie zu einer erfolgreichen Ingenieurin werden ließ, die in der Öffentlichkeit als Erfinderin und Expertin für Schiffsschrauben respektiert wurde und selbst in der Admiralität und bei Marineingenieuren Anerkennung fand. Aber aus welcher Motivation heraus auch immer – sie überschritt selbstbewusst festgelegte Geschlechterrollen und erkämpfte sich dank ihrer Qualifikation ihren Platz in einer Welt, die damals für Frauen weitgehend verschlossen war.

Ungewöhnlich auch im Privaten

Baron Edward Bulwer Lytton, Vansittarts Liebhaber und Förderer

Baron Edward Bulwer Lytton, Vansittarts Liebhaber und Förderer (Foto von André-Adolphe-Eugène Disdéri)

Dass Vansittart mutig war, zeigte sich auch in ihrem unkonventionellen Privatleben. Bereits 1859 hatte sie eine Liebesbeziehung mit dem (verheirateten) Politiker, Schriftsteller und Baron Edward Bulwer-Lytton begonnen (sein wohl bekanntestes Buch ist „Die letzten Tage von Pompeji“). Vansittart verließ ihren Mann und lebte fortan im Haus ihres Großvaters in Ewell. Von ihrem prominenten Liebhaber erhielt sie finanzielle Unterstützung für ihre Arbeit. Die Affäre, die wohl 12 Jahre dauerte, war in beiden Familien und sogar im Parlament wohlbekannt. Als Bulwer-Lytton 1873 starb, vermachte er Vansittart (und auch ihrem Ehemann!) jeweils eine beträchtliche Summe Geldes.

Henrietta kaufte sich davon Häuser in Twickenham, soll es aber später versäumt haben, die Erhaltungsgebühren für ihr Patent zu zahlen.

Das Leben dieser Pionierin endete traurig: Nach dem Besuch einer Technik-Ausstellung in Tynemouth wurde sie im September 1882, angeblich verwirrt und durch aggressives Verhalten auffällig geworden, auf der Straße in Gewahrsam genommen und in das St Nicholas's Hospital in Gosforth eingeliefert (anderen Quellen zufolge war es das Tyne City Lunatic Asylum). Sie verließ diese Anstalt nicht mehr. Vor 140 Jahren, am 8. Februar 1883, starb sie dort offiziell an „Manie und Milzbrand“.

Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: DEPATISnet, Public domain / via Wikimedia commons, Trustees of the Science Museum Group/Science and Society Picture Library, André-Adolphe-Eugène Disdéri / Bibliotheque National de France / Public domain via Wikimedia commons

Stand: 09.04.2024