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Richard Willstätter

Richard Willstätter 1916

Richard Willstätter 1916

Das verjagte Genie

Richard Willstätter war einer der vielen brillanten Wissenschaftler, die in den Zeiten der nationalsozialistischen Barbarei aus ihrer Heimat verjagt wurden. Nobelpreisträger, vielfacher Ehrendoktor, Mitglied internationaler wissenschaftlichen Gesellschaften von Rang – aber weil er als Jude in der Heimat ständig angefeindet wurde, gab er schon 1924 seinen Münchner Lehrstuhl auf. 1938 floh er in die Schweiz.

Vielleicht hat sich die Wissenschaft in Deutschland, besonders die Chemie, niemals vollständig von dem „brain drain“ erholt, der durch die Vertreibung der besten deutschen Naturwissenschaftler in den 1930er Jahren herbeigeführt wurde. Mehr als zwanzig Nobelpreisträger mussten fliehen; Albert Einstein und Lise Meitner gehören zu den bekanntesten unter den Exilanten.

Karrierebeginn in München

Richard Martin Willstätter wurde vor 150 Jahren, am 13. August 1872, in Karlsruhe geboren. Seine Kindheit und die ersten Schuljahre verbrachte er dort, die restliche Schulzeit in Nürnberg. 1890 begann er das Studium der Chemie in München am Institut von Adolf von Baeyer, der 1905 den Nobelpreis erhalten sollte. 15 Jahre blieb Willstätter dort. Nachdem er 1896 seine Habilitationsschrift „Untersuchungen in der Tropingruppe“ vorgelegt hatte, wurde er Dozent und schließlich außerordentlicher Professor.

Aus dieser Zeit stammen auch seine ersten Patentanmeldungen wie „Tropin-Ketone and process of making same“ ( pdf-Datei US628293A, 1897). Er beschäftigte sich vor allem mit der Struktur und Synthese von Pflanzenalkaloiden wie Atropin und Kokain, später mit Chinon und chinonartigen Verbindungen und der Erforschung pflanzlicher und tierischer Pigmente. 1905 folgte er einem Ruf nach Zürich und wurde Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule.

Berliner Zeit und Nobelpreis

Willstätters Berliner Labor, 1913

Willstätters Berliner Labor, 1913

Die sieben Jahre in der Schweiz waren wissenschaftlich äußerst produktiv, aber 1912 ging er nach Berlin an das neue Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie. Während des Ersten Weltkrieges wurde das Institut zur kriegsbezogenen Arbeiten gedrängt. Willstätter entwickelte einen Gasmaskenfilter und erhielt dafür das „Eiserne Kreuz“. Aus seiner Berliner Zeit stammt u.a. das Patent auf ein „Verfahren zur Herstellung von Lösungen aus Zellulose“ ( pdf-Datei AT80118B, 1914).

Aber vor allem konnte er hier mit seinen Mitarbeitern seine Untersuchungen zum Chlorophyll abrunden, in diesem Zusammenhang auch einige Arbeiten zum Hämoglobin abschließen und Studien zu den Anthocyanen, den Farbstoffen von Blüten und Früchten, durchführen. Besonders für die Arbeiten zum Chlorophyll erhielt er 1915 den Nobelpreis für Chemie zugesprochen (die Feier fand aber erst nach dem Krieg 1920 in Stockholm statt).

Im gleichen Jahr entschloss er sich, nach München zurück zu kehren und den Lehrstuhl seines alten Mentors Adolf von Baeyer zu übernehmen. Hier setzte Willstätter seine Arbeiten von grundlegender Bedeutung fort. Seine Untersuchungen zur Photosynthese und zur Natur der Enzyme waren Vorläufer der modernen Biochemie. Darüber hinaus widmete er seine Aufmerksamkeit schon früh auch Problemen der theoretischen Chemie. Seine Arbeit schlug sich auch in seinen Patentanmeldungen nieder, z.B. „Verfahren zur Gewinnung von Formaldehyd aus Aethylen“ ( pdf-Datei DE350922A,1918) oder „Verfahren zur Darstellung von Perhydrophenylnaphtylmethan-o-carbonsaeuren“ ( pdf-Datei DE325714A, 1919).

Eklat in München

US628293A

Aus US628293A

Aber seine akademische Laufbahn endete abrupt und vorzeitig. Richard Willstätter hatte sich – im Gegensatz zu Freunden und Kollegen wie etwa Fritz Haber - stets zu seiner jüdischen Herkunft bekannt, war aber der Ansicht, dass Glaubens- und Religionsfragen rein private Angelegenheiten seien. In München begann nach dem Krieg der Antisemitismus hoch zu kochen, der den Aufstieg der NSDAP ermöglichte und beflügelte. An einer universitären Personalie entzündeten sich heftige antisemitische Proteste inner- und außerhalb der Universität: „Kein deutscher Jüngling darf zukünftig zu Füßen eines jüdischen Lehrers sitzen“, pöbelte es von rechten Plakaten. Willstätter zog 1924 die Konsequenzen und setzte ein Zeichen: „Euere Spectabilität bitte ich ergebenst, durch den Akademischen Senat an das Staatsministerium für Unterricht und Kultur das Gesuch zu leiten, mich aus dem Bayerischen Staatsdienst zu entlassen …. Mein Entschluss ist endgültig“, schrieb er an den Dekan.

In München erregte Willstätters Rücktritt großes Aufsehen. Es gab Sympathiekundgebungen von Studenten; sein Kollege Emil Kraepelin meinte: „Er hätte bleiben und alle anderen hinauswerfen sollen.“ Willstätter blieb aber in der Stadt und war in seinem Haus in der Möhlstraße 29 als Privatgelehrter tätig. Und meldete weitere Patente an, z.B. „Verfahren zum Konservieren tierischer und pflanzlicher Stoffe“ ( pdf-Datei DE516923A, DE513665A u.a., 1929; „Verfahren zum Imprägnieren von Hölzern und Geweben“ ( pdf-Datei DE520970A, 1928).

Dem KZ knapp entronnen

Büste Willstätters in der Ruhmeshalle bei der Bavaria an der Theresienwiese München

Büste Willstätters in der Ruhmeshalle bei der Bavaria an der Theresienwiese München

„Der Untergang der Humanität in Deutschland vollzog sich erst nach dem Ende meines beruflichen Wirkens“, schrieb er später. „Musste man es vordem als Unrecht empfinden, dass entgegen der Verfassung der Bekenner der jüdischen Religion in vielen Teilen des Staatsdienstes zurückgesetzt wurde, so ist es seit 1933 dazu gekommen, dass das Deutsche Reich die Angehörigen der jüdischen Rasse, die es indessen gar nicht gibt, beraubt und vernichtet hat.“

Am Morgen nach dem Novemberpogrom, am 10. November 1938, erschien die Gestapo bei Willstätter, um ihn nach Dachau ins Konzentrationslager zu bringen. Er war nicht zuhause. „Mit der Zusicherung wiederzukommen, verabschiedeten sich die Beamten. An den folgenden drei frühen Morgen saß ich von 5 ½ Uhr fröstelnd, aber empfangsbereit an meinem Schreibtisch, aber man kam nicht, man hatte genug.“ Jetzt war ihm klar: „Ich musste auswandern und für den Abschluss meines Lebens eine Zuflucht suchen.“

Richard Willstätter floh in die Schweiz. Er musste fast seinen gesamten Besitz in München zurücklassen, auch seine große Bibliothek und seine Nobelpreismedaille.

„Ich verließ meine geliebte deutsche Heimat, die mir alles gewesen, und fand als Emigrant ‚toleranza per riposo’ zu Muralto-Locarno, Villa Eremitaggio.“ Dort verbrachte er seine letzten Jahre und schrieb seine Autobiographie. Er starb vor 80 Jahren, am 3. August 1942.

Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Ruf Camille Public domain via Wikimedia Commons, unbekannt, Public domain via Wikimedia Commons, DEPATISnet, Rufus46 CC by SA 3.0 via Wikimedia Commons

Stand: 05.03.2024