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Luftfahrtpionier Richard Pearse

NZ21476

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Vor 120 Jahren: Der erste Motorflieger der Welt?

Vielleicht war er der erste Motorflieger der Welt: Richard Pearse. Nie gehört? Gut möglich! Haben wir doch alle seit Generationen gelernt, dass die Gebrüder Wright die ersten gewesen sein sollen, die ein Flugzeug mit Motor in die Luft gebracht haben. Dabei ist eigentlich keineswegs sicher, dass niemand vor ihnen flog. Gustav Weißkopf kam ihnen möglicherweise zuvor – und vielleicht auch Richard Pearse. Vor 120 Jahren, am 31. März 1903, soll er mit einem selbstgebauten Motorflugzeug in Waitohi in Neuseeland einen kurzen Flug absolviert haben.

Pearse, geboren am 3. Dezember 1877 in Temuka, war ein hochbegabter technischer Autodidakt, der schon in der Schule durch seine Tüftelleidenschaft auffiel. Seine Eltern, irischstämmige Landwirte mit neun Kindern, konnten es sich nicht leisten, mehr als ein Kind auf die Universität zu schicken und sein älterer Bruder studierte bereits Medizin. Pearse erhielt also keine höhere Ausbildung, aber zu seinem 21. Geburtstag ein riesiges Grundstück in South Canterbury, das er bewirtschaften und auf dem er an seinen Erfindungen arbeiten konnte.

„Bamboo Dick“ und sein Hochdecker

Richard Pearse

Richard Pearse, um 1903

Gut versteckt hinter einer riesigen Ginsterhecke lag das Bauernhaus, das er zu seiner Werkstatt umfunktionierte. Am 8. Februar 1902 meldete er ein Patent für ein Fahrrad an („Improvements in, and connected with bicycles“, NZ14507). Im gleichen Jahr begann er an seinem Fluggerät zu arbeiten.

Pearses Flugzeug, das (vielleicht?) Technikgeschichte schrieb, war ein Hochdecker mit einer Spannweite von etwa siebeneinhalb Metern. Ein Otto-Zweitaktmotor mit 24 PS trieb einen achtblättrigen Propeller an. Der Rahmen bestand aus Aluminium und Bambusholz, ein Material, das er häufig verwendete und das ihm den Spitznamen „Bamboo Dick“ einbrachte. Die Flügel waren mit Segeltuch bespannt, das dreirädrige Fahrgestell aus Stahlrohr geschweißt. Das Flugzeug verfügte über Quer- und Höhenruder. Der Pilot saß unterhalb des Motors auf einem beweglichen Sitz, der auch einen heftigen Aufprall abfedern konnte.

Ende in der Ginsterhecke

Eines Tages soll Pearse sein Flugzeug auf die Hauptstraße von Waitohi gerollt und es an der Kreuzung vor einer Schule aufgestellt haben. Es brauchte stundenlange Versuche, bis der Motor starte, heißt es. Aber flog Pearse dann auch wirklich? In mühsamer Recherchearbeit haben Forscher später insgesamt 55 Zeugen für Pearses Aktivitäten ermittelt, von denen einige einen kurzen Flug gesehen haben wollen, der in der Ginsterhecke endete. Manche wollen auch nur das Flugzeug auf der Hecke gesehen haben. Sein Flug soll dabei eine Höhe von etwa dreieinhalb Metern erreicht und sich über 100-200 Meter erstreckt haben - bis die Hecke in die Quere kam. Als wahrscheinliches Datum dieses Ereignisses kristallisierte sich in der Forschung der 31. März 1903, ein Dienstag, heraus. Das wäre ein halbes Jahr vor dem Erstflug der Wrights gewesen.

NZ87637, Pearses Senkrechtstarter von 1943

NZ87637, Pearses Senkrechtstarter von 1943

Zu den vielen Unklarheiten rund um dieses Ereignis trug leider auch Pearse selbst bei. Im Gegensatz zu Gustav Weißkopf etwa, dem möglicherweise schon 1901 der erste Motorflug gelungen war, behauptete er selbst gar nicht, überhaupt geflogen zu sein. 1909 sagte er in einem Interview, er habe vor 1904 „nichts Praktisches versucht“ („I did not attempt anything practical with the idea“). Später sagte er auch, dass die Wrights die ersten Motorflieger gewesen seien („as they were actually the first to make successful flights with a motor-driven aeroplane“). Allerdings mag diese Einschätzung an Pearse hohen Ansprüchen an einen echten Flug gelegen haben. Er betrachtete seine Bruchlandung in der Hecke womöglich nicht als richtigen Flug. Aber der berühmte Erstflug der Wrights war – was Pearse vielleicht nicht wusste – ja letztlich auch nicht mehr als ein kurzer Hüpfer.

Die Wrights waren früher – mit der Patentanmeldung

Nachbau von Pearse Hochdecker im South Canterbury Museum in Neuseeland

Nachbau von Pearse Hochdecker im South Canterbury Museum in Neuseeland

Sicher ist jedenfalls, dass die Wrights mit ihrer Patentanmeldung schneller waren. Sie meldeten ihren „Flyer“ bereits Monate vor dem Erstflug, am 23. März 1903, zum Patent an (erteilt am 22. Mai 1906, pdf-Datei US821393A (1,21 MB)). Pearse reichte erst Jahre später seine Erfindung beim neuseeländischen Patentamt ein: „An improved aerial or flying machine“ (19.07.1906). Erteilt wurde das Patent am 8. August 1907 ( pdf-Datei NZ21476 (6,31 MB)).

Noch im selben Jahr begann er mit der Konstruktion eines zweiten Flugzeuges, das eine Spannweite von über zwölf Metern haben sollte. 1909 stellte er jedoch die Arbeit daran ein, möglicherweise, weil er Zweifel an seiner Steuerbarkeit hatte. Erst über 20 Jahre später nahm er die Beschäftigung mit der Luftfahrt wieder auf und konstruiert sein „Utility Plane“, einen Senkrechtstarter. 1943 meldete er sein drittes Flugzeug zum Patent an, das ihm 1949 schließlich auch gewährt wurde („An aeroplane that can ascend and descend in very restricted areas“, NZ87637; siehe auch AU1328344A, AU124430B2). Geflogen ist dieser Entwurf aber nie.

Ein einsamer Pionier

NZ14507, "Improvements in bicycles" von 1902

NZ14507, "Improvements in bicycles" von 1902

Pearse wurde später des Daseins als Farmer überdrüssig und zog in die Stadt nach Christchurch. Er blieb bis an sein Lebensende ein manischer, zunehmend verschrobener, zurückgezogener Bastler. Schließlich entwickelte er paranoide Züge und kam in eine geschlossene Anstalt. Zwei Jahre später, am 29. Juli 1953, starb er in Riccarton.

Ob Pearse erstes Flugzeug 1903 wirklich geflogen ist? Wir wissen es nicht genau. Sicher ist: Es war eine erstaunliche Konstruktion, die technische Merkmale aufwies, die bis heute im Flugzeugbau verwendet werden, etwa ein Querruder. Der Wright-Flyer hatte keins dieser Form, obwohl die Brüder mit einem Team von Ingenieuren arbeiteten, während der Autodidakt Pearse seine Maschine völlig allein konstruierte. Ob er nun der erste Motorflieger war oder nicht – Pearse ist jedenfalls ein verdienstvoller Pionier der Luftfahrt.

Text: Dr. Jan Björn Potthast; Bilder: Intellectual Property Office New Zealand (IPONZ), unbekannter Fotograf via Wikimedia Commons, IPONZ, Karora (public domain via Wikimedia Commons), IPONZ

Stand: 09.04.2024